Seit Anfang Januar hat sich der Winter durchgesetzt. Mit der
Industrialisierung hat sich unser Verhältnis zum Winter grundlegend geändert.
Einst als eine Zeit der Ruhe, scheint er sich als "Zeitdieb" oder
"Störenfried" im permanenten Betriebsablauf unserer beschleunigten
Gesellschaft herauszukristallisieren.
Der Winter stört Zeitpläne überall,
wo er nur kann. Auf den Verkehrswegen gibt es Beeinträchtigungen: Verspätungen, Wartezeiten
und Ausfälle. „Zeitdiebe“ oder „Zeitfallen“ sind unliebsame Wartezeiten,
Störungen oder Unterbrechungen in der Zeitplanung und sie stehlen die wertvolle
Zeit. Das jedenfalls behaupten Verfechter gängiger Zeitmanagementmethoden.
Zeitmanagementexperten raten dem Einzelnen diese „Zeitfresser“ aufzuspüren und
weitgehend zu reduzieren.
Spürt man dem Winter und
seine zeitlichen Auswirkungen im Alltäglichen einmal genauer nach,
beeinträchtigt er vor allem die hochmobile Non-Stop-Leistungs- und Konsumgesellschaft
- dicht vertaktet, auf hohe Geschwindigkeiten, ständige Mobilität und
permanenten Leistungszwang getrimmt. Durch Schnee, Glätte und Kälte werden
effiziente, rationell und logistisch ausgeklügelte Terminkalender, Zeitplanungen
und Zeitplansysteme durcheinander gebracht. Fahrpläne von Bus und Bahn können
nicht eingehalten werden. Es kommt zu Verzögerungen bzw. zeitweise zu Ausfällen
im öffentlichen Personenverkehr. Fahrgäste stehen frierend und wartend auf
Bahnhöfen, müssen teils auf andere Zugverbindungen ausweichen oder ihre Fahrt
ganz aufgeben. Auf glatten oder schneeverwehten Straßen und Autobahnen legen
Staus und Unfälle den Verkehr stundenlang völlig lahm. Ebenfalls im Flugverkehr
gibt es Behinderungen und Ausfälle von Flügen. Und selbst ein Fußgänger muss
sich langsamer und vorsichtiger fortbewegen, weil glatte und vereiste Fußwege
in den Städten die Gefahr des Ausrutschens erhöhen. Die Zahl der Bein- und
Armbrüche steigt in dieser Zeit an und so mancher Fußgänger muss deshalb eine
Ruhepause im Krankenhaus einlegen.
Rosa (2005) benennt
solche Phänomene der Verlangsamung bzw. Stillstandes als „dysfunktionale
Nebenfolgen“, die in beschleunigten Gesellschaften in zunehmend massiveren Maße
auftreten. Statt Bewegung und Beschleunigung treten an der „rückständigen (Natur-)Schnittstelle“ Winter reale
Verlangsamungen, Verzögerungen und Stillstände auf, weil dieser in seiner natürlichen
Form nicht zeitlich mit einer schnellen Lebensweise synchronisiert. Momente, Stunden oder Tage des
Nicht-Funktionierens ziehen ökonomische Schäden in Millionenhöhe nach sich.
Der Winter „stört“
nicht nur im Alltäglichen, sondern hat ebenso Einfluss auf die Lebenszeitgestaltung
bzw. Lebenszeit. Beispielsweise ist eine erhöhte Arbeitslosigkeit während der
Wintermonate eine ‚normale‘ jährlich wiederkehrende Entwicklung, die im Januar
gewöhnlich ihren höchsten Anstieg erreicht, wie Arbeitsmarktdaten zeigen und um
so höher ausfällt, je kälter der Winter ist und je länger er dauert. Dies gilt
insbesondere für witterungsbedingte Arbeiten, wie zum Beispiel im Baugewerbe.
Der Winter bringt in diesen Fällen für den Einzelnen eine berufs- und
witterungsbedingte „Zwangspause“. Außerdem verzeichnen Demographen
jahreszeitlich bedingte Schwankungen für alle demografischen Ereignisse. So stellten
bereits die Klassiker der Demografie für die Mortalität eine teilweise extreme
Übersterblichkeit im Winter fest. Auch heute existiert eine höhere
Sterblichkeit im Winter, jedoch ist die Stärke des Einflusses der Saisonalität deutlich geringer geworden (vgl. Dinkel,
Kohls).
Hat man den Winter in
seinen zeitlichen Auswirkungen einmal genauer untersucht, heißt es nun diesen
„Zeitdieb“ weitestgehend, entsprechend dem Rat der Zeitmanagementexperten, zu
reduzieren. Genau dieses Experiment der Menschheit läuft seit dem Beginn der „Zeit-
ist Uhren-Rechnung“ und „Zeit-ist-Geld-Rechnung“. Die dunklen Tage werden mit
künstlichem Licht verlängert. Winterruhe oder Winterpausen, wie es sie in landwirtschaftlich
geprägten Gesellschaften gab, gehören der Vergangenheit an. Der Mensch geht
auch im Winter seinen Beschäftigungen wie gehabt und unbeirrt nach. Behindert
Glätte, Kälte oder Schnee den Verkehr, arbeitet der Winterdienst ununterbrochen, um einen
Rund-um-die-Uhr- Ablauf der Leistungsgesellschaft zu gewähren bzw. wieder
herzustellen. Und meist dauert es nicht lange und der Verkehr rollt erneut nonstop
weiter. In der Bundesliga wurde übrigens für die Saison 2009/2010 die
Winterpause um dreieinhalb Wochen reduziert, um mehr Spieltermine zu haben. Es gibt
ja beheizbare Spielflächen.
Ist der Winter
wirklich eine „Zeitfalle“? Als „Zeitdieb“ stellt sich der Winter nur in diesem
linearen und ökonomischen Verständnis von Zeit dar. Der Winter eingebunden in den natürlichen Rhythmus
der Jahreszeiten ist kein Störenfried seiner zyklischen Natur-Zeit. Bei
Pflanzen und allen Lebewesen kann eine Reaktion auf den winterlichen
Jahreszeitenwechsel mit kürzeren Tagen und abnehmenden Temperaturen beobachtet
werden. Zugvögel, wie beispielsweise Falken, Schwalben, Rotkehlchen oder Finken,
u.a. entfliehen in südliche und wärmere Gefilde. Manche Tiere, wie Kröten,
Mäuse oder Eichhörnchen verfallen in einen Erstarrungszustand oder
oberflächlichen Winterschlaf. Schlangen und Eidechsen halten einen
Schlaf-Ruhe-Zustand und einige Tiere entwickelten als Anpassung eine
Winter-Schlaf-Reaktion, in dem z.B. die Herzfrequenz gesenkt ist, der
Sauerstoffverbrauch abfällt, die Gehirnzellen sich verlangsamen oder die
Blutgefäße sich verengen. Auch beim Menschen zeigen sich mit physiologischen
und psychologischen Veränderungen als natürliche Anpassung auf kürzere Tage und
kalte Temperaturen winterschlafähnliche Reaktionen (vgl.Whybrow, Bahr). Untersuchungsreihen
zeigen, dass der Mensch, mit individuellen Schwankungen, im Winter die Neigung
zeigt, mehr zu schlafen, einen langsameren Aktivitätsrhythmus und eine
schlechtere Stimmung hat, mehr Kohlenhydrate zu sich nimmt und an Gewicht
zunimmt. Die Winterzeit ist eine natürliche Zeit der Ruhe und Entschleunigung. So
beeinflusst im Übrigen frisch gefallener Schnee das Sehen und Hören, denn die
Natur erscheint insgesamt ruhiger, wie Wissenschaftler festgestellt haben. Das
Gehirn verbindet schon den Anblick von Schnee mit Stille und Ruhe. Schnee ist ein
Material, das den Schall sehr gut absorbiert
und unsere Umwelt merklich leiser erscheinen lässt. Und selbst das Bundesamt
für Katastrophenschutz, der jüngst den Winter bei einem Sturmtief sogar zur
Katastrophe erklärte, riet den Bürgern auf seiner Website, „möglichst zu Hause
zu bleiben und das Winterwetter aus sicherer Distanz in Ruhe zu genießen“. Wahrgenommene
winterliche Zeitkonflikte sind nicht dem Winter immanent, sondern haben ihre
Ursachen in dem beschleunigten Lebensstil moderner Gesellschaften. Statt auf
kürzere und kältere Tage mit Trägheit, Gelassenheit und Besinnung zu reagieren,
werden diese natürlichen biologischen Reaktionen bekämpft, weil sie nicht mit
dem Werte- und Normensystem einer Leistungs- und Beschleunigungsgesellschaft
konform gehen, und das schnelle Leben
wird wie gewöhnlich fortgeführt.
Zeitwohlstand im
Winter als ein rechtes Maß an Zeit zu finden, bedeutet eine gute Synchronisation von
gesellschaftlichen Lebensweisen mit
natürlichen winterlichen „Zeitplänen“, mit einem Recht auf Entschleunigung,
Ruhe und Besinnung in der kalten und dunklen Jahreszeit.
Literaturhinweise:
Brunner
B. (2016): Als die Winter noch Winter waren. Geschichte einer Jahreszeit,
Berlin
Dinkel
R. H., Kohls M. (2006): Die „normale" Saisonalität und die Auswirkung
kurzzeitiger Extremwerte der Mortalität in Deutschland (begutachteter
Beitrag), Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft, Jg. 31, 2/2006,
S. 163-186
Hirschfeld, C.C.L. (1769): Der Winter, Leipzig
Rinderspacher
J. P., Hermann-Stojanow I., Pfahl S., Reuyss S. (2009): Zeiten der
Pflege, Münster
Rosa H. (2005): Beschleunigung, Frankfurt/M.
Whybrow P., Bahr R. (1992): Winterschlaf, Reinbek bei
Hamburg