Donnerstag, 2. Januar 2020

Uhrendämmerung - eine Rezension


 
Karlheinz A. Geißler

Die Uhr kann gehen
Das Ende der Gehorsamkeitskultur

2019

Stuttgart: Hirzel

"Uhrendämmerung"
Karlheinz Geißler benutzt den Begriff "Uhrendämmerung", in Anlehnung zur Abend- und Morgendämmerung, in denen sich der Wandel zwischen Tag und Nacht und umgekehrt als ein zeitlicher Übergang vollzieht. Wir befinden uns gerade in einer Zeit tiefgreifender Veränderungen im Umgang mit unserer Zeit, im Zeitdenken und im Zeitverständnis, so der Autor.
Seine zentrale und "steile" These dieses Buches: Die Uhrzeit verliere an Bedeutung und Dominanz für unser soziales Handeln, im öffentlichen Leben und für unsere Zeitgestaltung im Alltag. Sie wird zu einer Zeit neben anderen und durch Zeitflexibilität ersetzt.
Inhaltlich ist das Buch in drei Teile gefasst.
Geißler untermauert an zahlreichen Beispielen seine Behauptung eines "Uhrensterbens" im Alltäglichen im ersten Teil dieses Buches. So verschwindet die Anzahl der Uhren als "sichtbare Zeitanzeigen" im öffentlichen Raum,  auf Bahnhöfen, in Rathäusern, Verwaltungsgebäuden oder auf Kirchtürmen, sind Uhren oft defekt oder gehen falsch, Uhrmachermeisterbetriebe haben deutliche Rückgänge zu verzeichnen, und  immer seltener werden wir in der Öffentlichkeit nach der genauen Uhrzeit gefragt.  Er nennt die Gründe für diese zunehmende gesellschaftliche Bedeutungslosigkeit der Uhren und der Uhrzeit.
Und er gibt einen Rückblick, wie sich Zeit durch die Erfindung der mechanischen Uhr zur Uhrzeit als solche entwickelte, wie sie den Alltag, das Zeithandeln und das Zeiterleben der Menschen veränderte und ein "Zeit-ist-Geld"-Denken entstand, einhergehend mit zunehmender Beschleunigung und Zeitmangel.
Heute konkurrieren  Smartphones und Smartwatches mit der Uhr, sie bieten  viele erweiterte Handlungsmöglichkeiten,   mit denen wir uns in "freiwillige Abhängigkeit" begeben. Wurden Kinder in der Moderne in das enge Zeitkorsett der Uhrzeit hinein diszipliniert, lernen sie heute schon von klein auf,  flexibel mit der Zeit umzugehen. Statt starrer Vertaktung der Zeit wird Zeit im Alltag vielgestaltiger. Wer allerdings denkt, dass diese multifunktionellen digitalen Geräte uns vom Zeitdruck und den Zeitkonflikten im Alltag befreien, der irrt, so der Autor. Vielmehr "sorgen [sie] dafür, dass wo einst Takt war, jetzt Turbulenzen, Zeitverdichtung und Vergleichzeitigung das Zeitgeschehen bestimmen."
Teil zwei dieses Buches ist ein Exkurs auf die Kuckucksuhr, als eine typisch deutsche Erfindung, die sich immer noch weltweit großer Beliebtheit erfreut. Geißler sieht diese als romantisches Sinnbild, das ein Gefühl von Heimat und Gemütlichkeit vermittelt und   Technik und Natur "versöhnt".
Neben der Uhrzeit lassen wir auch die Pünktlichkeit (Teil drei) als "uhrzeitkonformes Handeln" hinter uns, denn "Pünktlichkeit und Unpünktlichkeit gehören zur Uhr",  schreibt Geißler. Und wie die Uhr bzw. die Uhrzeit zunehmend an Bedeutung verlieren, sei auch die "Tugend der Pünktlichkeit auf dem Rückzug".
Mit zahlreichen Zitaten von Philosophen und Schriftstellern unterstreicht und veranschaulicht der Autor seine These.
Die gut lesbare Sprache kennt man aus vielen Büchern von Karlheinz Geißler. Er  beweist sich wieder einmal als scharfer und kritischer Beobachter, wenn es um  "Zeit-Zeichen" im Alltag geht.

Erstveröffentlichung in: Zeitpolitisches Magazin (ZpM) der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik (Online Magazin), Dezember 2019, Ausgabe 35, S. 40-41. 

Donnerstag, 31. Januar 2019

Ist Tagebuchschreiben - noch modern? Eine Rezension


Sich die Zeit nehmen, ein eigenes Tagebuch zu schreiben – vor allem auch noch von Hand – klingt das heute nicht allzu antiquiert, wo wir doch fast permanent und überall digital auf den verschiedenen Social-Media-Plattformen alles Mögliche und Persönliche des Alltäglichen teilen? Olaf Georg Klein belehrt uns eines besseren. Denn, "Tagebuchschreiben ist ein Reich der Freiheit und der Unbekümmertheit, eines der wenigen, die es in der heutigen Zeit und in dieser Kultur noch gibt. Niemanden geht es etwas an, was geschrieben wird. Keiner prüft die Texte, beurteilt oder verurteilt sie. Es gibt keine Noten." (S. 27) "Es ist auf radikale Weise intim." (S.9) Soziale Medien als "gierige Institutionen" dagegen sorgen für ständige Ablenkung durch Informationsfülle und Manipulation der eigenen Person und Beschleunigung; jederzeit immer mehr individuelle Daten zu sammeln sind ihr spezifisches Kennzeichen.
Der Autor zeigt in diesem Sachbuch zahlreiche Facetten des Tagebuchschreibens auf, u.a. Facetten der Anlässe des Tagebuchsschreibens, der Inhalte von Tagebüchern, der Auswirkungen des Tagebuchsschreibens bis hin  zu Selbsterkenntnis und Selbstwirksamkeit.
Ein wichtiges soziales Konstrukt allerdings spielt implizit wie explizit immer wieder in den einzelnen Kapiteln eine wichtige Rolle – das der Zeit. Denn das Schreiben eines Tagebuches hat viel mit der eigenen Zeit, der Zeitwahrnehmung und der Erinnerung zu tun und damit für ein gelungenes Leben mit weniger Hast und Eile, wie der Autor eindrucksvoll zeigt. Tagebuchschreiben verlangsamt, "trägt zur Beruhigung bei" (S. 54), zu mehr Gelassenheit, Vervielfacht das Leben und gibt! dem Menschen mehr Zeit als es nimmt. Das Tagebuch ist keine "sinnlose Häufung vergangener Zeit" sondern gibt der eigenen Lebenszeit einen Sinn, vor allem durch "Deutung und Einordnung, Selbstreflexion und Sinngebung …" (S. 52). Es ist ein Gegenpol unserer beschleunigten Zeitkultur. Zeiten des Tagebuchsschreibens sind zweckfreie Zeiten des Innehaltens und der inneren Einkehr.
Die beiden letzten Kapitel widmen sich ausdrücklich  dem Thema Zeit, wie dem Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft oder der Bedeutung von Tagebüchern als Zeitzeugen oder dem Erinnern.
Ich habe dieses sehr gelungene und lesbare Buch mit Begeisterung gelesen. Nicht nur Tagebuch-, sondern allen Zeitinteressierten sei zu empfehlen – es ist eine Bereicherung!


Olaf Georg Klein (2018): Tagebuchschreiben. Berlin: Wagenbach.


Erstveröffentlichung in: Zeitpolitisches Magazin (ZpM) der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik (Online Magazin), 15. Jg. Dezember 2018, Ausgabe 33, S. 34.

Montag, 25. Juni 2018

Immer mehr Zeit wird im Internet verbracht

Die Deutschen verbringen immer mehr Zeit im Internet. Wie die aktuelle Postbank Digitalstudie 2018 zeigt, durchschnittlich 46 Stunden, also mehr als die durchschnittliche Wochenarbeitszeit von insgesamt 41 Stunden. Junge Menschen, zwischen 18 und 34 Jahre verbringen sogar rund 58 Stunden im WWW, vor allem mobil mit dem Smartphone.

Quelle: "obs/Postbank" / https://www.presseportal.de/pm/6586/3973308

Mittwoch, 24. Januar 2018

Einsamkeit – Auch ein Zeitthema


© Henrich Evers

Als ausreichend Zeit für sich selbst zur Selbstfindung und individuellen Sammlung, als kreative Auszeit oder notwendige Ruhepause vom stressigen Alltag und als bewusst erlebte Zeit ist das Alleinsein für jeden, wenn auch in einem individuell unterschiedlichen Ausmaß, notwendig.
Doch Einsamkeit ist nicht mit diesem Bedürfnis nach ausreichend Zeit für sich selbst gleichzusetzen. Das Gefühl Einsamkeit entsteht dann, wenn ein Mensch weniger soziale Kontakte hat, als er sich gerne wünscht. Der Mensch ist ein soziales Wesen, der ausreichend Zeit mit- und füreinander mit anderen verbringen möchte, verbunden mit dem Gefühl des Dazugehörens, des Gebrauchtwerdens und der Geborgenheit. Ein Zuviel alleinverbrachter Zeit führt in die soziale Isolation und kann körperliche wie psychische Erkrankungen begünstigen und die Sterblichkeit negativ beeinflussen, ähnlich wie das Rauchen, der Mangel an Bewegung oder Übergewicht.[1]
Das Thema Einsamkeit ist derzeit in die öffentliche und politische Diskussion geraten, nachdem die britische Premierministerin Theresa May offiziell eine "Ministerin für Einsamkeit" ins Amt berufen hat, dessen Aufgabenbereich die Sportstaatsekretärin Tracey Crouch mit übernehmen soll. Denn in Großbritannien fühlen sich mehr als neun Millionen Menschen sozial isoliert. Nur einmal im Monat führten u.a. ca. 200.000 ältere Menschen ein Gespräch mit einem Freund oder Verwandten.
Auch in Deutschland fühlt sich eine steigende Zahl von Menschen in jeder Altersgruppe sozial isoliert. Hierzulande beklagt sich jeder fünfte über 85 Jahre und jeder Siebte zwischen 45- bis 65 Jahren über Einsamkeit.
Vor allem gesellschaftliche Veränderungen u.a. durch Industrialisierung, Beschleunigung, Globalisierung, Flexibilisierung und räumlicher Mobilität sowie Digitalisierung befördern zwar individuelle Freiheiten aber eben auch die Gefahr sozialer Isolierung.
In vorindustriellen Zeiten lebten Menschen vorwiegend gemeinschaftlich in Großfamilien. Im Zuge von Industrialisierung, Verstädterung und Individualisierung gab es die Entwicklung hin zur typischen Kleinfamilie bis zum Single-Haushalt, der heute der häufigste Haushaltstyp in Deutschland ist. Bereits 1903 hat Georg Simmel auf eine zunehmende Einsamkeit hingewiesen: In Großstädten "ist [es] offenbar nur der Revers dieser Freiheit, wenn man sich unter Umständen nirgends so einsam und verlassen fühlt, als eben in dem großstädtischen Gewühl; denn hier wie sonst ist es keineswegs notwendig, dass die Freiheit des Menschen sich in seinem Gefühlsleben als Wohlbefinden spiegele".[2]
Einsamkeit ist vor allem ein Zeit- und Zeitwohlstandsproblem.
Vielen Menschen fehlt heute schlichtweg die Zeit oder sind zu erschöpft, um sich um Verwandte, Freunde oder Nachbarn zu kümmern. 44 Prozent der Beschäftigten sind laut DGB-Index Gute Arbeit 2017 nach der Arbeit oft oder sehr häufig zu erschöpft, um sich noch um private und familiäre Angelegenheiten zu kümmern. Auch Arbeitszeiten, die tatsächlich 45 Stunden und mehr betragen sowie ständige Erreichbarkeit verhindern eine gute Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Besonders Arbeitnehmer, die sehr häufig oder oft nachts arbeiten sind von zeitlich bedingten Vereinbarungsschwierigkeiten betroffen.[3]
Kollektive Zeitinstitutionen, wie das Wochenende, der Feierabend oder gemeinsame Mahlzeiten in der Familie verlieren durch flexibilisierte Arbeitszeiten an Bedeutung, die gemeinsam verbrachte Beziehungszeiten zunehmend schwieriger organisieren lassen.
Nicht nur das Wegbrechen kollektiver Zeiten, sondern auch das kollektiver Orte, wie beispielsweise Gaststätten oder Einkaufsmöglichkeiten in ländlichen Räumen, die oft besonders für ältere immobile Menschen als Orte sozialer Kommunikation fungier[t]en, trägt zum Gefühl sozialer Isolation bei.
Ebenso können Entwicklungen durch die Digitalisierung das Gefühl von sozialer Einsamkeit befördern. Wenn an öffentlichen Orten, wie beispielsweise Bahnhöfen oder Einkaufsmöglichkeiten menschliche Kommunikation nach und nach und gänzlich durch Automaten oder digitaler Applikationen auf dem Smartphone ersetzt wird, kann man sich an solchen Orten schon sehr einsam fühlen.
Eine wichtige Rolle spielt daneben die Qualität von gemeinsam verbrachter Zeit. Nicht Wenige fühlen sich auch in sozialer Gemeinschaft, mit ihrem Partner*in oder in der digitalen Kommunikation mit anderen einsam. Wie oft sieht man auf den Straßen junge Mütter mit Kinderwagen, die mehr mit dem Smartphone beschäftigt sind als mit ihren eigenen Kindern. Und wenn der Aufbau und der Erhalt sozialer Beziehungen zur Beziehungsarbeit – zum Networking –, wie das nicht selten bei Projektarbeitern der Fall ist, degradiert, dann steht dahinter meist eher ein ökonomisches Kalkül als echtes soziales Interesse am anderen.
Nach Hartmut Rosa (2016) entsteht durch diese gesellschaftlichen Entwicklungen, die für ihn ursächlich auf gesellschaftliche Beschleunigungsprozesse gründen, u.a. ein gestörtes Beziehungsverhältnis zur sozialen Welt. Die Menschen haben immer mehr das Gefühl, entfremdet einer "stummen, gleichgültigen Welt gegenüber zu stehen", in denen die "lebendigen Verbindungen zu anderen Menschen" – die sozialen Resonanzerfahrungen – fehlen.[4]
Auch wenn Einsamkeit ein sehr individuelles Problem ist, so sind es doch gesamtgesellschaftliche Zeit-Entwicklungen die soziale Isolation und das individuelle Gefühl von Einsamkeit begünstigen. Politik und Gesellschaft sind gefragt, wenn es um gesellschaftliche Rahmenbedingungen geht, die den Menschen mehr Zeit füreinander, im Sinne eines guten Lebens, ermöglichen.

Nachweise:
[1] http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/gesundheit/wie-gefaehrlich-ist-einsamkeit-wirklich-15406497.html
[2] Simmel, Georg (1903): Die Großstädte und das Geistesleben. Essay. http://socio.ch/sim/verschiedenes/1903/grossstaedte.htm
[3] DGB-Index Gute Arbeit. Report 2017. Schwerpunkt: Vereinbarkeit von Arbeit und Privatleben. http://index-gute-arbeit.dgb.de/++co++614dfaea-bee1-11e7-98bf-52540088cada
[4] Rosa, Hartmut (2016): Resonanz eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin.