Donnerstag, 31. Januar 2019

Ist Tagebuchschreiben - noch modern? Eine Rezension


Sich die Zeit nehmen, ein eigenes Tagebuch zu schreiben – vor allem auch noch von Hand – klingt das heute nicht allzu antiquiert, wo wir doch fast permanent und überall digital auf den verschiedenen Social-Media-Plattformen alles Mögliche und Persönliche des Alltäglichen teilen? Olaf Georg Klein belehrt uns eines besseren. Denn, "Tagebuchschreiben ist ein Reich der Freiheit und der Unbekümmertheit, eines der wenigen, die es in der heutigen Zeit und in dieser Kultur noch gibt. Niemanden geht es etwas an, was geschrieben wird. Keiner prüft die Texte, beurteilt oder verurteilt sie. Es gibt keine Noten." (S. 27) "Es ist auf radikale Weise intim." (S.9) Soziale Medien als "gierige Institutionen" dagegen sorgen für ständige Ablenkung durch Informationsfülle und Manipulation der eigenen Person und Beschleunigung; jederzeit immer mehr individuelle Daten zu sammeln sind ihr spezifisches Kennzeichen.
Der Autor zeigt in diesem Sachbuch zahlreiche Facetten des Tagebuchschreibens auf, u.a. Facetten der Anlässe des Tagebuchsschreibens, der Inhalte von Tagebüchern, der Auswirkungen des Tagebuchsschreibens bis hin  zu Selbsterkenntnis und Selbstwirksamkeit.
Ein wichtiges soziales Konstrukt allerdings spielt implizit wie explizit immer wieder in den einzelnen Kapiteln eine wichtige Rolle – das der Zeit. Denn das Schreiben eines Tagebuches hat viel mit der eigenen Zeit, der Zeitwahrnehmung und der Erinnerung zu tun und damit für ein gelungenes Leben mit weniger Hast und Eile, wie der Autor eindrucksvoll zeigt. Tagebuchschreiben verlangsamt, "trägt zur Beruhigung bei" (S. 54), zu mehr Gelassenheit, Vervielfacht das Leben und gibt! dem Menschen mehr Zeit als es nimmt. Das Tagebuch ist keine "sinnlose Häufung vergangener Zeit" sondern gibt der eigenen Lebenszeit einen Sinn, vor allem durch "Deutung und Einordnung, Selbstreflexion und Sinngebung …" (S. 52). Es ist ein Gegenpol unserer beschleunigten Zeitkultur. Zeiten des Tagebuchsschreibens sind zweckfreie Zeiten des Innehaltens und der inneren Einkehr.
Die beiden letzten Kapitel widmen sich ausdrücklich  dem Thema Zeit, wie dem Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft oder der Bedeutung von Tagebüchern als Zeitzeugen oder dem Erinnern.
Ich habe dieses sehr gelungene und lesbare Buch mit Begeisterung gelesen. Nicht nur Tagebuch-, sondern allen Zeitinteressierten sei zu empfehlen – es ist eine Bereicherung!


Olaf Georg Klein (2018): Tagebuchschreiben. Berlin: Wagenbach.


Erstveröffentlichung in: Zeitpolitisches Magazin (ZpM) der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik (Online Magazin), 15. Jg. Dezember 2018, Ausgabe 33, S. 34.