Sich die Zeit nehmen, ein eigenes Tagebuch zu schreiben – vor allem
auch noch von Hand – klingt das heute nicht allzu antiquiert, wo wir doch fast
permanent und überall digital auf den verschiedenen Social-Media-Plattformen alles
Mögliche und Persönliche des Alltäglichen teilen? Olaf Georg Klein belehrt uns
eines besseren. Denn, "Tagebuchschreiben ist ein Reich der Freiheit und
der Unbekümmertheit, eines der wenigen, die es in der heutigen Zeit und in
dieser Kultur noch gibt. Niemanden geht es etwas an, was geschrieben wird.
Keiner prüft die Texte, beurteilt oder verurteilt sie. Es gibt keine
Noten." (S. 27) "Es ist auf radikale Weise intim." (S.9) Soziale
Medien als "gierige Institutionen" dagegen sorgen für ständige Ablenkung
durch Informationsfülle und Manipulation der eigenen Person und Beschleunigung;
jederzeit immer mehr individuelle Daten zu sammeln sind ihr spezifisches
Kennzeichen.
Der Autor zeigt in diesem Sachbuch zahlreiche Facetten des Tagebuchschreibens
auf, u.a. Facetten der Anlässe des Tagebuchsschreibens, der Inhalte von
Tagebüchern, der Auswirkungen des Tagebuchsschreibens bis hin zu Selbsterkenntnis und Selbstwirksamkeit.
Ein wichtiges soziales Konstrukt allerdings
spielt implizit wie explizit immer wieder in den einzelnen Kapiteln eine wichtige
Rolle – das der Zeit. Denn das Schreiben eines Tagebuches hat viel mit der
eigenen Zeit, der Zeitwahrnehmung und der Erinnerung zu tun und damit für ein gelungenes
Leben mit weniger Hast und Eile, wie der Autor eindrucksvoll zeigt. Tagebuchschreiben
verlangsamt, "trägt zur Beruhigung bei" (S. 54), zu mehr
Gelassenheit, Vervielfacht das Leben und gibt! dem Menschen mehr Zeit als es
nimmt. Das Tagebuch ist keine "sinnlose Häufung vergangener Zeit"
sondern gibt der eigenen Lebenszeit einen Sinn, vor allem durch "Deutung
und Einordnung, Selbstreflexion und Sinngebung …" (S. 52). Es ist ein
Gegenpol unserer beschleunigten Zeitkultur. Zeiten des Tagebuchsschreibens sind
zweckfreie Zeiten des Innehaltens und der inneren Einkehr.
Die beiden letzten Kapitel widmen sich ausdrücklich dem Thema Zeit, wie dem Verhältnis von
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft oder der Bedeutung von Tagebüchern als
Zeitzeugen oder dem Erinnern.
Ich habe dieses sehr gelungene und lesbare Buch mit Begeisterung
gelesen. Nicht nur Tagebuch-, sondern allen Zeitinteressierten sei zu empfehlen
– es ist eine Bereicherung!
Olaf Georg Klein (2018): Tagebuchschreiben. Berlin: Wagenbach.
Erstveröffentlichung in: Zeitpolitisches Magazin (ZpM) der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik (Online Magazin), 15. Jg. Dezember 2018, Ausgabe 33, S. 34.