Mittwoch, 24. Januar 2018

Einsamkeit – Auch ein Zeitthema


© Henrich Evers

Als ausreichend Zeit für sich selbst zur Selbstfindung und individuellen Sammlung, als kreative Auszeit oder notwendige Ruhepause vom stressigen Alltag und als bewusst erlebte Zeit ist das Alleinsein für jeden, wenn auch in einem individuell unterschiedlichen Ausmaß, notwendig.
Doch Einsamkeit ist nicht mit diesem Bedürfnis nach ausreichend Zeit für sich selbst gleichzusetzen. Das Gefühl Einsamkeit entsteht dann, wenn ein Mensch weniger soziale Kontakte hat, als er sich gerne wünscht. Der Mensch ist ein soziales Wesen, der ausreichend Zeit mit- und füreinander mit anderen verbringen möchte, verbunden mit dem Gefühl des Dazugehörens, des Gebrauchtwerdens und der Geborgenheit. Ein Zuviel alleinverbrachter Zeit führt in die soziale Isolation und kann körperliche wie psychische Erkrankungen begünstigen und die Sterblichkeit negativ beeinflussen, ähnlich wie das Rauchen, der Mangel an Bewegung oder Übergewicht.[1]
Das Thema Einsamkeit ist derzeit in die öffentliche und politische Diskussion geraten, nachdem die britische Premierministerin Theresa May offiziell eine "Ministerin für Einsamkeit" ins Amt berufen hat, dessen Aufgabenbereich die Sportstaatsekretärin Tracey Crouch mit übernehmen soll. Denn in Großbritannien fühlen sich mehr als neun Millionen Menschen sozial isoliert. Nur einmal im Monat führten u.a. ca. 200.000 ältere Menschen ein Gespräch mit einem Freund oder Verwandten.
Auch in Deutschland fühlt sich eine steigende Zahl von Menschen in jeder Altersgruppe sozial isoliert. Hierzulande beklagt sich jeder fünfte über 85 Jahre und jeder Siebte zwischen 45- bis 65 Jahren über Einsamkeit.
Vor allem gesellschaftliche Veränderungen u.a. durch Industrialisierung, Beschleunigung, Globalisierung, Flexibilisierung und räumlicher Mobilität sowie Digitalisierung befördern zwar individuelle Freiheiten aber eben auch die Gefahr sozialer Isolierung.
In vorindustriellen Zeiten lebten Menschen vorwiegend gemeinschaftlich in Großfamilien. Im Zuge von Industrialisierung, Verstädterung und Individualisierung gab es die Entwicklung hin zur typischen Kleinfamilie bis zum Single-Haushalt, der heute der häufigste Haushaltstyp in Deutschland ist. Bereits 1903 hat Georg Simmel auf eine zunehmende Einsamkeit hingewiesen: In Großstädten "ist [es] offenbar nur der Revers dieser Freiheit, wenn man sich unter Umständen nirgends so einsam und verlassen fühlt, als eben in dem großstädtischen Gewühl; denn hier wie sonst ist es keineswegs notwendig, dass die Freiheit des Menschen sich in seinem Gefühlsleben als Wohlbefinden spiegele".[2]
Einsamkeit ist vor allem ein Zeit- und Zeitwohlstandsproblem.
Vielen Menschen fehlt heute schlichtweg die Zeit oder sind zu erschöpft, um sich um Verwandte, Freunde oder Nachbarn zu kümmern. 44 Prozent der Beschäftigten sind laut DGB-Index Gute Arbeit 2017 nach der Arbeit oft oder sehr häufig zu erschöpft, um sich noch um private und familiäre Angelegenheiten zu kümmern. Auch Arbeitszeiten, die tatsächlich 45 Stunden und mehr betragen sowie ständige Erreichbarkeit verhindern eine gute Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Besonders Arbeitnehmer, die sehr häufig oder oft nachts arbeiten sind von zeitlich bedingten Vereinbarungsschwierigkeiten betroffen.[3]
Kollektive Zeitinstitutionen, wie das Wochenende, der Feierabend oder gemeinsame Mahlzeiten in der Familie verlieren durch flexibilisierte Arbeitszeiten an Bedeutung, die gemeinsam verbrachte Beziehungszeiten zunehmend schwieriger organisieren lassen.
Nicht nur das Wegbrechen kollektiver Zeiten, sondern auch das kollektiver Orte, wie beispielsweise Gaststätten oder Einkaufsmöglichkeiten in ländlichen Räumen, die oft besonders für ältere immobile Menschen als Orte sozialer Kommunikation fungier[t]en, trägt zum Gefühl sozialer Isolation bei.
Ebenso können Entwicklungen durch die Digitalisierung das Gefühl von sozialer Einsamkeit befördern. Wenn an öffentlichen Orten, wie beispielsweise Bahnhöfen oder Einkaufsmöglichkeiten menschliche Kommunikation nach und nach und gänzlich durch Automaten oder digitaler Applikationen auf dem Smartphone ersetzt wird, kann man sich an solchen Orten schon sehr einsam fühlen.
Eine wichtige Rolle spielt daneben die Qualität von gemeinsam verbrachter Zeit. Nicht Wenige fühlen sich auch in sozialer Gemeinschaft, mit ihrem Partner*in oder in der digitalen Kommunikation mit anderen einsam. Wie oft sieht man auf den Straßen junge Mütter mit Kinderwagen, die mehr mit dem Smartphone beschäftigt sind als mit ihren eigenen Kindern. Und wenn der Aufbau und der Erhalt sozialer Beziehungen zur Beziehungsarbeit – zum Networking –, wie das nicht selten bei Projektarbeitern der Fall ist, degradiert, dann steht dahinter meist eher ein ökonomisches Kalkül als echtes soziales Interesse am anderen.
Nach Hartmut Rosa (2016) entsteht durch diese gesellschaftlichen Entwicklungen, die für ihn ursächlich auf gesellschaftliche Beschleunigungsprozesse gründen, u.a. ein gestörtes Beziehungsverhältnis zur sozialen Welt. Die Menschen haben immer mehr das Gefühl, entfremdet einer "stummen, gleichgültigen Welt gegenüber zu stehen", in denen die "lebendigen Verbindungen zu anderen Menschen" – die sozialen Resonanzerfahrungen – fehlen.[4]
Auch wenn Einsamkeit ein sehr individuelles Problem ist, so sind es doch gesamtgesellschaftliche Zeit-Entwicklungen die soziale Isolation und das individuelle Gefühl von Einsamkeit begünstigen. Politik und Gesellschaft sind gefragt, wenn es um gesellschaftliche Rahmenbedingungen geht, die den Menschen mehr Zeit füreinander, im Sinne eines guten Lebens, ermöglichen.

Nachweise:
[1] http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/gesundheit/wie-gefaehrlich-ist-einsamkeit-wirklich-15406497.html
[2] Simmel, Georg (1903): Die Großstädte und das Geistesleben. Essay. http://socio.ch/sim/verschiedenes/1903/grossstaedte.htm
[3] DGB-Index Gute Arbeit. Report 2017. Schwerpunkt: Vereinbarkeit von Arbeit und Privatleben. http://index-gute-arbeit.dgb.de/++co++614dfaea-bee1-11e7-98bf-52540088cada
[4] Rosa, Hartmut (2016): Resonanz eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin.