Karlheinz A.
Geißler
Die Uhr kann gehen
Das Ende der
Gehorsamkeitskultur
2019
Stuttgart: Hirzel
Karlheinz Geißler
benutzt den Begriff "Uhrendämmerung", in Anlehnung zur Abend- und
Morgendämmerung, in denen sich der Wandel zwischen Tag und Nacht und umgekehrt
als ein zeitlicher Übergang vollzieht. Wir befinden uns gerade in einer Zeit
tiefgreifender Veränderungen im Umgang mit unserer Zeit, im Zeitdenken und im
Zeitverständnis, so der Autor.
Seine
zentrale und "steile" These dieses Buches: Die Uhrzeit verliere an
Bedeutung und Dominanz für unser soziales Handeln, im öffentlichen Leben und
für unsere Zeitgestaltung im Alltag. Sie wird zu einer Zeit neben anderen und
durch Zeitflexibilität ersetzt.
Inhaltlich
ist das Buch in drei Teile gefasst.
Geißler
untermauert an zahlreichen Beispielen seine Behauptung eines
"Uhrensterbens" im Alltäglichen im ersten Teil dieses Buches. So
verschwindet die Anzahl der Uhren als "sichtbare Zeitanzeigen" im
öffentlichen Raum, auf Bahnhöfen, in
Rathäusern, Verwaltungsgebäuden oder auf Kirchtürmen, sind Uhren oft defekt
oder gehen falsch, Uhrmachermeisterbetriebe haben deutliche Rückgänge zu
verzeichnen, und immer seltener werden
wir in der Öffentlichkeit nach der genauen Uhrzeit gefragt. Er nennt die Gründe für diese zunehmende
gesellschaftliche Bedeutungslosigkeit der Uhren und der Uhrzeit.
Und er gibt
einen Rückblick, wie sich Zeit durch die Erfindung der mechanischen Uhr zur
Uhrzeit als solche entwickelte, wie sie den Alltag, das Zeithandeln und das
Zeiterleben der Menschen veränderte und ein "Zeit-ist-Geld"-Denken
entstand, einhergehend mit zunehmender Beschleunigung und Zeitmangel.
Heute
konkurrieren Smartphones und
Smartwatches mit der Uhr, sie bieten viele erweiterte Handlungsmöglichkeiten, mit
denen wir uns in "freiwillige Abhängigkeit" begeben. Wurden Kinder in
der Moderne in das enge Zeitkorsett der Uhrzeit hinein diszipliniert, lernen
sie heute schon von klein auf, flexibel
mit der Zeit umzugehen. Statt starrer Vertaktung der Zeit wird Zeit im Alltag
vielgestaltiger. Wer allerdings denkt, dass diese multifunktionellen digitalen
Geräte uns vom Zeitdruck und den Zeitkonflikten im Alltag befreien, der irrt,
so der Autor. Vielmehr "sorgen [sie] dafür, dass wo einst Takt war, jetzt
Turbulenzen, Zeitverdichtung und Vergleichzeitigung das Zeitgeschehen
bestimmen."
Teil zwei
dieses Buches ist ein Exkurs auf die Kuckucksuhr, als eine typisch deutsche
Erfindung, die sich immer noch weltweit großer Beliebtheit erfreut. Geißler
sieht diese als romantisches Sinnbild, das ein Gefühl von Heimat und
Gemütlichkeit vermittelt und Technik und Natur "versöhnt".
Neben der
Uhrzeit lassen wir auch die Pünktlichkeit (Teil drei) als "uhrzeitkonformes
Handeln" hinter uns, denn "Pünktlichkeit und Unpünktlichkeit gehören
zur Uhr", schreibt Geißler. Und wie
die Uhr bzw. die Uhrzeit zunehmend an Bedeutung verlieren, sei auch die
"Tugend der Pünktlichkeit auf dem Rückzug".
Mit zahlreichen
Zitaten von Philosophen und Schriftstellern unterstreicht und veranschaulicht
der Autor seine These.
Die gut lesbare
Sprache kennt man aus vielen Büchern von Karlheinz Geißler. Er beweist sich wieder einmal als scharfer und
kritischer Beobachter, wenn es um
"Zeit-Zeichen" im Alltag geht.
Erstveröffentlichung in: Zeitpolitisches Magazin (ZpM) der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik (Online Magazin), Dezember 2019, Ausgabe 35, S. 40-41.
Erstveröffentlichung in: Zeitpolitisches Magazin (ZpM) der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik (Online Magazin), Dezember 2019, Ausgabe 35, S. 40-41.