© Henrich Evers
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Als ausreichend Zeit für sich selbst zur Selbstfindung und individuellen
Sammlung, als kreative Auszeit oder notwendige Ruhepause vom stressigen Alltag
und als bewusst erlebte Zeit ist das Alleinsein für jeden, wenn auch in einem
individuell unterschiedlichen Ausmaß, notwendig.
Doch Einsamkeit ist nicht mit diesem Bedürfnis nach ausreichend Zeit
für sich selbst gleichzusetzen. Das Gefühl Einsamkeit entsteht dann, wenn ein
Mensch weniger soziale Kontakte hat, als er sich gerne wünscht. Der Mensch ist
ein soziales Wesen, der ausreichend Zeit mit- und füreinander mit anderen
verbringen möchte, verbunden mit dem Gefühl des Dazugehörens, des
Gebrauchtwerdens und der Geborgenheit. Ein Zuviel alleinverbrachter Zeit führt
in die soziale Isolation und kann körperliche wie psychische Erkrankungen
begünstigen und die Sterblichkeit negativ beeinflussen, ähnlich wie das
Rauchen, der Mangel an Bewegung oder Übergewicht.[1]
Das Thema Einsamkeit ist derzeit in die öffentliche und politische Diskussion
geraten, nachdem die britische Premierministerin Theresa May offiziell eine
"Ministerin für Einsamkeit" ins Amt berufen hat, dessen Aufgabenbereich
die Sportstaatsekretärin Tracey Crouch mit übernehmen soll. Denn in
Großbritannien fühlen sich mehr als neun Millionen Menschen sozial isoliert.
Nur einmal im Monat führten u.a. ca. 200.000 ältere Menschen ein Gespräch mit
einem Freund oder Verwandten.
Auch in Deutschland fühlt sich eine
steigende Zahl von Menschen in jeder Altersgruppe sozial isoliert. Hierzulande beklagt
sich jeder fünfte über 85 Jahre und jeder Siebte zwischen 45- bis 65 Jahren über
Einsamkeit.
Vor allem gesellschaftliche Veränderungen u.a. durch Industrialisierung,
Beschleunigung, Globalisierung, Flexibilisierung und räumlicher Mobilität sowie
Digitalisierung befördern zwar individuelle Freiheiten aber eben auch die
Gefahr sozialer Isolierung.
In vorindustriellen Zeiten lebten Menschen
vorwiegend gemeinschaftlich in Großfamilien. Im Zuge von Industrialisierung, Verstädterung
und Individualisierung gab es die Entwicklung hin zur typischen Kleinfamilie
bis zum Single-Haushalt, der heute der häufigste Haushaltstyp in Deutschland
ist. Bereits 1903 hat Georg Simmel auf eine zunehmende Einsamkeit hingewiesen: In
Großstädten "ist [es] offenbar nur der Revers dieser Freiheit, wenn man
sich unter Umständen nirgends so einsam und verlassen fühlt, als eben in dem
großstädtischen Gewühl; denn hier wie sonst ist es keineswegs notwendig, dass
die Freiheit des Menschen sich in seinem Gefühlsleben als Wohlbefinden
spiegele".[2]
Einsamkeit ist
vor allem ein Zeit- und Zeitwohlstandsproblem.
Vielen Menschen fehlt heute schlichtweg die Zeit oder sind zu
erschöpft, um sich um Verwandte, Freunde oder Nachbarn zu kümmern. 44 Prozent
der Beschäftigten sind laut DGB-Index Gute Arbeit 2017 nach der Arbeit oft oder
sehr häufig zu erschöpft, um sich noch um private und familiäre Angelegenheiten
zu kümmern. Auch Arbeitszeiten, die tatsächlich 45 Stunden und mehr betragen sowie
ständige Erreichbarkeit verhindern eine gute Vereinbarkeit von Beruf und
Familie. Besonders Arbeitnehmer, die sehr häufig oder oft nachts arbeiten sind
von zeitlich bedingten Vereinbarungsschwierigkeiten betroffen.[3]
Kollektive Zeitinstitutionen, wie das Wochenende, der Feierabend oder
gemeinsame Mahlzeiten in der Familie verlieren durch flexibilisierte
Arbeitszeiten an Bedeutung, die gemeinsam verbrachte Beziehungszeiten
zunehmend schwieriger organisieren lassen.
Nicht nur das Wegbrechen kollektiver Zeiten, sondern auch das kollektiver
Orte, wie beispielsweise Gaststätten oder Einkaufsmöglichkeiten in ländlichen
Räumen, die oft besonders für ältere immobile Menschen als Orte sozialer
Kommunikation fungier[t]en, trägt zum Gefühl sozialer Isolation bei.
Ebenso können Entwicklungen durch die Digitalisierung das Gefühl von
sozialer Einsamkeit befördern. Wenn an öffentlichen Orten, wie beispielsweise
Bahnhöfen oder Einkaufsmöglichkeiten menschliche Kommunikation nach und nach
und gänzlich durch Automaten oder digitaler Applikationen auf dem Smartphone ersetzt
wird, kann man sich an solchen Orten schon sehr einsam fühlen.
Eine wichtige Rolle spielt daneben die Qualität von gemeinsam
verbrachter Zeit. Nicht Wenige fühlen sich auch in sozialer Gemeinschaft, mit
ihrem Partner*in oder in der digitalen Kommunikation mit anderen einsam. Wie
oft sieht man auf den Straßen junge Mütter mit Kinderwagen, die mehr mit dem
Smartphone beschäftigt sind als mit ihren eigenen Kindern. Und wenn der Aufbau
und der Erhalt sozialer Beziehungen zur Beziehungsarbeit – zum Networking –,
wie das nicht selten bei Projektarbeitern der Fall ist, degradiert, dann steht
dahinter meist eher ein ökonomisches Kalkül als echtes soziales Interesse am
anderen.
Nach Hartmut Rosa (2016) entsteht durch diese gesellschaftlichen
Entwicklungen, die für ihn ursächlich auf gesellschaftliche Beschleunigungsprozesse
gründen, u.a. ein gestörtes Beziehungsverhältnis zur sozialen Welt. Die Menschen
haben immer mehr das Gefühl, entfremdet einer "stummen, gleichgültigen
Welt gegenüber zu stehen", in denen die "lebendigen Verbindungen zu
anderen Menschen" – die sozialen Resonanzerfahrungen – fehlen.[4]
Auch wenn Einsamkeit ein sehr
individuelles Problem ist, so sind es doch gesamtgesellschaftliche Zeit-Entwicklungen
die soziale Isolation und das individuelle Gefühl von Einsamkeit begünstigen. Politik
und Gesellschaft sind gefragt, wenn es um gesellschaftliche Rahmenbedingungen geht,
die den Menschen mehr Zeit füreinander, im Sinne eines guten Lebens,
ermöglichen.
Nachweise:
[1] http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/gesundheit/wie-gefaehrlich-ist-einsamkeit-wirklich-15406497.html
[2] Simmel, Georg (1903): Die
Großstädte und das Geistesleben. Essay. http://socio.ch/sim/verschiedenes/1903/grossstaedte.htm
[3] DGB-Index Gute Arbeit. Report
2017. Schwerpunkt: Vereinbarkeit von Arbeit und Privatleben. http://index-gute-arbeit.dgb.de/++co++614dfaea-bee1-11e7-98bf-52540088cada
[4] Rosa, Hartmut (2016): Resonanz
eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin.
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