Donnerstag, 14. Januar 2016

Die Schallplatte als Slow-Media



Digitale Musik im WWW zeichnet sich dadurch aus, dass sie jederzeit, überall und unbegrenzt zur Verfügung steht. Durch ihre "totale Verfügbarkeit" können Nutzer von Musikstreamingdiensten alle Lieder hören, die es weltweit gibt. Aber damit ist Musik zur Beliebigkeit geworden, die kaum mehr mit Bedeutung aufgeladen wird. Musik dient als hektische "Hintergrundberieselung", zur Überbrückung von unliebsamen Wartezeiten und führt zum Verlust von Langeweile. Digitale Musik ist ein Medium der Beschleunigung und Verdichtung von Alltagszeit - die einer 24/7 Gesellschaft.
Digitaler Musikkonsum über das Internet hat zudem die totale Kontrolle über den Nutzer und seine Alltagszeit übernommen. Streamingdienste, wie z.B. Spotify wissen ganz genau zu welchen Zeiten, sich Nutzer welche Songs anhören, sie wissen wo sie sind, was und wie schnell sie was gerade tun. Sie kennen die alltäglichen Gewohnheiten ihrer Hörer. Dieser  trifft keine selbstkontrollierte Entscheidung mehr über die von ihm gehörte Musik, sondern große Internetfirmen, mathematische Algorithmen; Musik dient vor allem der schnellen und größtmöglichen Gewinne des Marktes. Streamingdienste benötigen keine Herstellungszeit, etwa wie für CD's oder DVD's, da Musik aus dem Internet ihre Materialität verloren hat.
Die 'gute alte Schallplatte' ist ein Relikt analoger Zeiten, in denen man an digitaler Musik noch nicht einmal gedacht hat und doch erfreut sie sich
zunehmender Beliebtheit. 2014 wurden in Deutschland 1,8 Millionen Stück verkauft, ca. 30 % mehr als im Jahr davor. Weltweit stieg der Absatz von Vinylplatten sogar um mehr als 50 %. Schallplatten müssen hergestellt werden und die Herstellung einer Platte dauert 30 Sekunden (zum Vergleich: eine CD - 3 Sek.) [2].
Schallplatten kann man nicht unbegrenzt horten, wie hunderttausende von Musiktiteln auf der virtuellen Cloud. Sie benötigen realen Raum, denn sie ist etwas ganz Konkretes. Sie sind keine Musik 'to go', die man sich überall und jederzeit eben mal schnell und nebenbei anhört.
Bevor man sie sich anhören möchte, muss die Schallplatte aus der Hülle genommen, aufgelegt und abgebürstet werden, um dann die Nadel aufsetzen zu können. "... das Kaufen und Auflegen von Schallplatten [wird] zu einem Ritual, für das man sich Zeit nehmen muss und Expertise braucht." [2: 115]
Ihre typischen Geräusche des Knacksens und Knisterns haben etwas Nostalgisches vergangener Zeiten an sich und liefern ein besonderes Klangergebnis. Musik wird zum Genuss oder zu einer kreativen Auszeit, für die man sich bewusst Zeit nimmt. Diese Zeit ist Zeit für sich selbst (eventuell auch Zeit realer Anwesender), die nicht von großen globalen Industriefirmen so ganz nebenbei digital überwacht und kontrolliert wird.
Und eine Vinyl-Platte ist wahrscheinlich ewig haltbar.
"Wo der Alltag digital wird, wächst die Sehnsucht nach analoger Qualität" [3] - wie zum Beispiel die Nachfrage nach Schallplatten - als Ausdruck des individuellen Bedürfnisses nach Entschleunigung; als Ausgleich zum digitalen Alltag, der von Beschleunigung, ständiger Erreichbarkeit, Überforderung und Überwachung geprägt ist. „Immer mehr Menschen suchen einen natürlichen Lebensstil, sie wollen das Leben besser genießen.“ ... „Und ein Teil der Leute will, wenn sie Musik hören, mehr Gefühl damit verbinden“. [4]

Literatur:
[1] Oehmke, Philipp (2016): 30 Millionen Lieder. In: Der Spiegel. Nr. 1/ 2016. S. 109-116.
[2] Skrobala, Jurek (2016): Endlosrille. In: Der Spiegel. Nr. 1/2106. S. 114-115.
[3] Turi, Peter (2016): Wo der Alltag digital wird, wächst die Sehnsucht nach analoger Qualität. In:    Print. Ein Plädoyer für Slow Media. S. 7.
[4]http://www.handelsblatt.com/panorama/aus-aller-welt/musik-auf-vinyl-die-rueckkehr-der-schallplatte/12301614.html

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