Ralf Konersmann
Wörterbuch der Unruhe
2017
Frankfurt/ Main: S. Fischer.
Rezension
Konersmann setzt in seinen
philosophischen Betrachtungen den Focus auf die Unruhe – als Daseinsgefühl, als
Grundausrichtung der heutigen Kultur, die sich so ganz nebenbei, jederzeit und
überall ausgebreitet hat: wie beispielsweise in der Bildung, der Mode, der
Arbeit, in Reformen oder Krisen. In der Unruhe sieht der Autor den
"rote[n] Faden im Gewebe der westlichen, der von Europa ausgegangenen und
längst schon den gesamten Globus umspannenden Kultur" (S. 13). In der
Gegenwärtigkeit von Unruhe zähle nicht "das Hier und Jetzt, sondern immer
nur der nächste [Augenblick]. Unruhe kenne keine Resultate, sondern nur lose
Enden, die neue Anfänge, Übergänge und Anschlüsse sind" (Konersmann 2015:
9). Schon in seinem 2015 erschienenen Buch "Die Unruhe der Welt" hatte
der Autor herausgearbeitet, wie sich Unruhe als kulturelle Konvention und
Unwiderstehlichkeit in allen Lebensbereichen durchgesetzt hat, ja geradezu zum
Imperativ unseres Handelns geworden ist. Hier ging es Konersmann vor allem darum, ihre historische Entwicklung
darzustellen. Im "Wörterbuch der Unruhe" greift der Autor nun dieses
Thema in dreißig alphabetisch geordneten kurzen philosophischen Essays wieder
auf, ergänzt diese auf der Grundlage ungenutzter Quellen und setzt neue
Schwerpunkte. Beiden Büchern ist gemein, dass sie einen den "Blick auf die
Unruhe der Welt" mit dem und „Blick auf die Welt der Unruhe"
verbinden (S.18).
Konersmann konzentriert dies auf
ausgesuchte Themen: von der »Arbeit«, bis hin zur »Zerstreuung«, in denen Unruhe in der
Normalität des Alltags Gestalt annimmt. Exemplarisch werden Stichwörter aufgegriffen,
die dazu beigetragen haben, unser Leben "unruhekonform" einzurichten
und, die unsere heutige "Unruhekultur"
etabliert haben. Wie haben wir es gelernt, die Unruhe zu lieben? Woher kommt
diese Vorliebe zur Unruhe? – Diesen und weiteren Fragen, geht der Philosoph
nach, um "Herkünfte auf[zu]zeigen, Zusammenhänge her[zu]stellen,
Entscheidungen nach[zu]vollziehen, Erwartungen [zu] verdeutlichen, Unwiderstehlichkeiten
[zu] benennen" (S. 20). Es soll, so der Autor vor allem ein
"kritisches Lesebuch" sein, in dem wir mehr über uns selbst und
unsere Zeit-Kultur erfahren.
Blick man in das Inhaltsverzeichnis sind einerseits dem Thema
naheliegende Einträge, wie u.a. »Beschleunigung«, »Flexibilität«, »Mode«, »Veränderung« oder »Muße« zu finden. Andererseits
rufen Stichwörter wie u.a. »Coolsein«, »Essay«, »Neugierde«, »Schicksal« oder »Sitzen« Erstaunen hervor, die
der Autor als unhinterfragte Ausdrucksformen oder „Verbündete der Unruhe" enttarnt. Einige stünden seit jeher
in Symbiose mit der Unruhe, andere haben im Laufe der Zeit diese in ihren Bann
gezogen oder haben eine Umdeutung erfahren.
So sei die Mode von vornherein das ideale "Übungsfeld der
Unruhe" (S. 123), weil sie kurzlebig und "eine Laune des
Augenblicks" (S. 124) ist. Mode ist fixiert sich auf das Neue, das
Flüchtige, ein unentwegtes Kommen und Gehen. Inhalte sind in der Mode eher
unwichtig; als "Vorwände" interessieren sie nur für eine Saison.
"Der geheime Lehrplan der Mode sieht die gemeinsam geteilte Freude an der
Veränderung vor, die fraglose Bereitschaft, (…) das unbedingte Verlangen, mit
der Zeit zu gehen und sich für anderes, Fremdes und Neues zu begeistern"
(S. 125). Die Mode schaffe es immer wieder, sich mit der Unruhe zu versöhnen,
in die sie Menschen versetze.
Das »Sitzen«
habe einen eigentlichen Bezug zur Ruhe: eine eigene Erlebniszeit, ob als
raumzeitliche Fixierung, im Sinne, an dem eine Firma ihren Sitz hat oder als
Körperhaltung. Auch Theodor Fontane lobte das Stillsitzen beim wenig gestörten Schreiben und Lesen. Doch, so der Autor, habe sich in einer Kultur der
Unruhe das Verständnis von Sitzen auf das
"Festsitzen" verengt. Sitzen hemme die Bewegungs- und Veränderungsfreudigkeit,
Sesshafte neigten zur "Schwerfälligkeit" und machten es sich in einer
flexiblen Welt eher bequem. Warnungen in Ratgeber- und Gesundheitsbroschüren
für sitzende Berufe gibt es zuhauf, sie sind längst "Gemeingut"
geworden. "In der Symbolsprache der Unruhe ist das Sitzen der Ort, an dem
körperliche und geistige Schwächen einander ergänzen." (S. 170)
Die Stärke der einzelnen Essays liegt vor allem im Herausarbeiten der
Widersprüchlichkeiten, der Ambivalenzen, die dieser Unruhe-Kultur innewohnt. Im
letzten Kapitel reflektiert der Autor
nüchtern, "dass ein einfaches Rezept, wie das Leben von Unrast und Hektik
befreit werden kann, nicht zu erwarten ist" (S. 237). Denn die
"Robustheit" der Unruhe besteht darin, dass wir diese tagtäglich
unbewusst immer wieder mit neuem Leben erfüllen. "Die Wege ihrer Durchsetzung
[der Kultur der Unruhe] sind subtil und unterlaufen die Aushandlungspraktiken
von Gesellschaft und Politik." Der Autor versteht dieses Wörterbuch
"als Intervention", um "den über Jahrhunderte hinweg gefestigten
Monolog der Unruhe [zu] erfassen und ihn, einmal dingfest gemacht, der
Fraglosigkeit [zu] entziehen, mit der er
sich eingenistet hat und für gewöhnlich der Aufmerksamkeit entzieht" (S.
241).
Das Buch kann wärmstens Leser*innen empfohlen werden, die sich mit der heutigen
gesellschaftlichen wie der eigenen Zeitkultur und ihrer Paradoxien auseinandersetzen möchten.
Literatur:
Konersmann, Ralf (2015): Die Unruhe der Welt. Frankfurt/
Main.
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