Sonntag, 3. Dezember 2017

Unsere Kultur der Unruhe




Ralf Konersmann
Wörterbuch der Unruhe
2017
Frankfurt/ Main: S. Fischer.









Rezension
Konersmann setzt in seinen philosophischen Betrachtungen den Focus auf die Unruhe – als Daseinsgefühl, als Grundausrichtung der heutigen Kultur, die sich so ganz nebenbei, jederzeit und überall ausgebreitet hat: wie beispielsweise in der Bildung, der Mode, der Arbeit, in Reformen oder Krisen. In der Unruhe sieht der Autor den "rote[n] Faden im Gewebe der westlichen, der von Europa ausgegangenen und längst schon den gesamten Globus umspannenden Kultur" (S. 13). In der Gegenwärtigkeit von Unruhe zähle nicht "das Hier und Jetzt, sondern immer nur der nächste [Augenblick]. Unruhe kenne keine Resultate, sondern nur lose Enden, die neue Anfänge, Übergänge und Anschlüsse sind" (Konersmann 2015: 9). Schon in seinem 2015 erschienenen Buch "Die Unruhe der Welt" hatte der Autor herausgearbeitet, wie sich Unruhe als kulturelle Konvention und Unwiderstehlichkeit in allen Lebensbereichen durchgesetzt hat, ja geradezu zum Imperativ unseres Handelns geworden ist. Hier ging es Konersmann  vor allem darum, ihre historische Entwicklung darzustellen. Im "Wörterbuch der Unruhe" greift der Autor nun dieses Thema in dreißig alphabetisch geordneten kurzen philosophischen Essays wieder auf, ergänzt diese auf der Grundlage ungenutzter Quellen und setzt neue Schwerpunkte. Beiden Büchern ist gemein, dass sie einen den "Blick auf die Unruhe der Welt" mit dem und „Blick auf die Welt der Unruhe" verbinden (S.18).
 Konersmann konzentriert dies auf ausgesuchte Themen: von der »Arbeit«, bis hin zur »Zerstreuung«, in denen Unruhe in der Normalität des Alltags Gestalt annimmt. Exemplarisch werden Stichwörter aufgegriffen, die dazu beigetragen haben, unser Leben "unruhekonform" einzurichten und, die  unsere heutige "Unruhekultur" etabliert haben. Wie haben wir es gelernt, die Unruhe zu lieben? Woher kommt diese Vorliebe zur Unruhe? – Diesen und weiteren Fragen, geht der Philosoph nach, um "Herkünfte auf[zu]zeigen, Zusammenhänge her[zu]stellen, Entscheidungen nach[zu]vollziehen, Erwartungen [zu] verdeutlichen, Unwiderstehlichkeiten [zu] benennen" (S. 20). Es soll, so der Autor vor allem ein "kritisches Lesebuch" sein, in dem wir mehr über uns selbst und unsere Zeit-Kultur erfahren.
Blick man in das Inhaltsverzeichnis sind einerseits dem Thema naheliegende  Einträge, wie u.a. »Beschleunigung«, »Flexibilität«, »Mode«, »Veränderung« oder »Muße« zu finden. Andererseits rufen Stichwörter wie u.a. »Coolsein«, »Essay«, »Neugierde«, »Schicksal« oder »Sitzen« Erstaunen hervor, die der Autor als unhinterfragte Ausdrucksformen oder „Verbündete der  Unruhe" enttarnt. Einige stünden seit jeher in Symbiose mit der Unruhe, andere haben im Laufe der Zeit diese in ihren Bann gezogen oder haben eine Umdeutung erfahren.
So sei die Mode von vornherein das ideale "Übungsfeld der Unruhe" (S. 123), weil sie kurzlebig und "eine Laune des Augenblicks" (S. 124) ist. Mode ist fixiert sich auf das Neue, das Flüchtige, ein unentwegtes Kommen und Gehen. Inhalte sind in der Mode eher unwichtig; als "Vorwände" interessieren sie nur für eine Saison. "Der geheime Lehrplan der Mode sieht die gemeinsam geteilte Freude an der Veränderung vor, die fraglose Bereitschaft, (…) das unbedingte Verlangen, mit der Zeit zu gehen und sich für anderes, Fremdes und Neues zu begeistern" (S. 125). Die Mode schaffe es immer wieder, sich mit der Unruhe zu versöhnen, in die sie Menschen versetze.
Das »Sitzen« habe einen eigentlichen Bezug zur Ruhe: eine eigene Erlebniszeit, ob als raumzeitliche Fixierung, im Sinne, an dem eine Firma ihren Sitz hat oder als Körperhaltung. Auch Theodor Fontane lobte das Stillsitzen beim  wenig gestörten Schreiben und Lesen. Doch, so  der Autor, habe sich in einer Kultur der Unruhe das Verständnis  von Sitzen auf das "Festsitzen" verengt. Sitzen hemme die Bewegungs- und Veränderungsfreudigkeit, Sesshafte neigten zur "Schwerfälligkeit" und machten es sich in einer flexiblen Welt eher bequem. Warnungen in Ratgeber- und Gesundheitsbroschüren für sitzende Berufe gibt es zuhauf, sie sind längst "Gemeingut" geworden. "In der Symbolsprache der Unruhe ist das Sitzen der Ort, an dem körperliche und geistige Schwächen einander ergänzen." (S. 170)
Die Stärke der einzelnen Essays liegt vor allem im Herausarbeiten der Widersprüchlichkeiten, der Ambivalenzen, die dieser Unruhe-Kultur innewohnt. Im  letzten Kapitel reflektiert der Autor nüchtern, "dass ein einfaches Rezept, wie das Leben von Unrast und Hektik befreit werden kann, nicht zu erwarten ist" (S. 237). Denn die "Robustheit" der Unruhe besteht darin, dass wir diese tagtäglich unbewusst immer wieder mit neuem Leben erfüllen. "Die Wege ihrer Durchsetzung [der Kultur der Unruhe] sind subtil und unterlaufen die Aushandlungspraktiken von Gesellschaft und Politik." Der Autor versteht dieses Wörterbuch "als Intervention", um "den über Jahrhunderte hinweg gefestigten Monolog der Unruhe [zu] erfassen und ihn, einmal dingfest gemacht, der Fraglosigkeit  [zu] entziehen, mit der er sich eingenistet hat und für gewöhnlich der Aufmerksamkeit entzieht" (S. 241).
Das Buch kann wärmstens Leser*innen empfohlen werden, die sich mit der heutigen gesellschaftlichen wie der eigenen Zeitkultur und ihrer Paradoxien auseinandersetzen möchten.

Literatur:
Konersmann, Ralf (2015): Die Unruhe der Welt. Frankfurt/ Main.

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