Muße ist mehr als ein von
temporalen Zwängen und äußeren Leistungserwartungen zeitlicher Freiraum, den man
hat oder nicht hat und je nach eigenen Bedürfnissen nutzen kann. Muße als spezifische
Zeiterfahrung hat ihre eigene Erlebnisqualität. In Mußesituationen sind wir
präsent, bewusst, aufmerksam, wir fühlen Ruhe und Entspannung. Kreativität und
Phantasie können sich erst in Muße entfalten. Um einen Zugang zur Muße zu
erlangen, bedarf es zudem – aus neurobiologischen Erkenntnissen heraus – die
Entwicklung und Herausbildung individueller Fähigkeiten, wie Geduld, Ausdauer
und Konzentration, die sich nur durch ausdauerndes Üben und durch gewisse
Disziplin als individuelle (Zeit-)Kompetenz erwerben lassen.
Soziale (Zeit-)Bedingungen können
Muße ermöglichen oder verhindern. Sie beeinflussen unsere Vorstellungen über die
Zeit, unseren Umgang mit Zeit und haben einen wesentlichen Einfluss, ob jemand
die Fähigkeit besitzt, sich Zugang zu den Möglichkeiten von Muße zu
verschaffen. Gesellschaftliche Einflüsse formen und verändern die beiden fundamentalen
neurobiologischen Systeme – das
Bottom-Up-System[1] und das Top-Down-System[2].
Unsere "Sofortness"-Kultur voller Ungeduld der digitalen
Medien befördern ein äußerst kurzes 'Reiz-Reaktions-Verhältnis' individueller Erwartungshaltungen, immer
alles in 'Echtzeit' zur Verfügung haben zu wollen. Diese permanent auf uns
einwirkenden digitalen Reize sprechen vor allem das Button-Up-System an – den schnellen
kurzfristigen Verlockungen der digitalen Welt, der Smartphones oder der sozialen
Medien ist kaum zu widerstehen. Auch, wenn tatsächlich kein Mangel besteht,
wirken sie permanent auf unser unmittelbares Belohnungssystem ein. Sie halten uns ständig in Unruhe und
verstellen den Weg zur Muße.
So macht es beispielsweise einen großen Unterschied aus, ob wir mit
der Hand schreiben oder in den Computer tippen oder auf Tablets und Smartphones
wischen.
Mit der Hand schreiben zu lernen und Gedachtes auf's Papier zu bringen,
bedarf ausdauernder Übung und des Zusammenspiels des Körpers. Dabei werden
entsprechende Regionen im Gehirn aktiviert. Während des Schreibens wird das Top-Down-System angesprochen, das für
das Planen, Strukturieren, der Kontrolle und der Kreativität verantwortlich
ist. Beim Mit-der-Hand-Schreiben, so belegen Studien, kommen wir auf mehr
Ideen, man muss sich konzentrieren. Zwar geht das langsamer vonstatten, aber
die verfügbare Zeit hilft, gedankliche Verbindungen herzustellen und Gedanken
nacheinander auszubilden – alles Voraussetzungen für Mußeerfahrungen.
Im Gegensatz dazu, tippten die
Probanden auf einen Computer zwar schneller, merkten sich aber nur einzelne
Begriffe statt inhaltliche Zusammenhänge. Auch waren sie in ihren Texten nicht
so kreativ.
U.a. gehörte es für Heinrich Böll
dazu, neben dem Geschriebenen, einen
farbigen Plan, ein Schema
![]() | ||||||
Böll Skizze zum Roman Frauen vor Flußlandschaft |
Grund genug, mußevoll zum Stift
zu greifen!
Literatur:
Bauer, Joachim
(2017): Selbststeuerung als Vorrausetzung von Muße. In: Muße und Gesellschaft.
Otium. Studien zur Theorie und Kulturgeschichte der Muße 5. Tübingen. S.
89-100.
Böll, Rene
(2010): Schemenhaft. In: Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.): Ansichten.
Die Romanskizzen Heinrich Bölls. Berlin. S.8-11.
Die Romanskizzen Heinrich Bölls. Berlin. S.8-11.
Cheauré, Elisabeth (2017): Zur Funktion
von Handarbeiten in L. N. Tolstojs Anna Karenina. In: Muße und
Gesellschaft. Otium. Studien zur Theorie und Kulturgeschichte der Muße 5.
Tübingen. S. 401-418.
Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.) (2010): Ansichten. Die Romanskizzen Heinrich Bölls. Berlin.
Lobo, Sascha (2011): Die
Mensch-Maschine: Digitale Ungeduld. http://www.spiegel.de/netzwelt/web/s-p-o-n-die-mensch-maschine-digitale-ungeduld-a-774110.html (Abruf:
11.12.2017)
Stern, Nociole (2016): Das
Muße-Prinzip. Wie wir wirklich im Jetzt ankommen. München.
Zeug, Katrin (2017): Schrift: Wie
das Schreiben das Denken verändert. http://www.zeit.de/zeit-wissen/2017/06/schrift-schreiben-denken-sprache
[1] Das Bottom-Up-System ist auf
eine unmittelbare Bedürfnisbefriedigung ausgerichtet und richtet sich
auf eine kurzfristige Perspektive.
[2] Das Top-Down-System befähigt
den Menschen , langfristig zu planen, vorausschauend zu denken innezuhalten
oder zu reflektieren. Diese Fähigkeit ist eine
entscheidende Voraussetzung für Mußeerfahrungen (Bauer 2017: 98).
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